Kreidler: ››European Song‹‹

Alle Gewalttätigkeiten vergangener Jahrhunderte erscheinen wie neu erdacht. Versprochen ist versprochen: Hinter den Schwarzen Löchern des Universums lauern eschatologische Paradiese.
 
Heinz Emigholz, aus: Die Basis des Make-Up, No. 391

Wie ein Orakelspruch stehen Heinz Emigholzes Worte vor den ersten Tönen von European Song. Das Zitat des Künstlers, der einen beachtlichen Teil des Kreidler’schen Œuvres verfilmte, stammt aus einer Serie von Notizheften, die er während der 1970er Jahre in New York mit Skizzen und Kommentaren füllte. Zeichnung No. 391 – Die Chinesische Landschaft –, der dieser Aphorismus zur Seite gestellt ist, zeigt eine groteske Szenerie, die Emigholz so kommentiert: »Aus den Öffnungen und Ritzen einer perfekten Küche wachsen bananenförmige Dildos — oder sind es Mondsicheln? Eine Frau putzt, kocht und spült sie ab, ein Kind hält ein Exemplar davon ratlos vor sich in der linken Hand und schaut ins Nichts. Eine Haushaltsrolle wartet auf ihren Einsatz. Auf den Holzdielen foltern Ureinwohner ihresgleichen mit Analdehnungen.

Es ist eine augenscheinlich absurde und doch enorm angespannte Position, in die das Bild seine Betrachter drängt. Eine erzwungene Verschränkung von Vertrautem und Fremdem: Einerseits steht die ›perfekte‹ Küche in ihrer Modellhaftigkeit stellvertretend für jede und folglich auch meine Küche, während die Absurdität dieser geradezu unmöglichen Situation abstoßend und befremdlich wirkt. Die Spannung lässt sich partout nicht auflösen, denn das Format der Zeichnung kettet beide Konstellationen unablösbar aneinander und unterdrückt obendrein den instinktiven Drang nach Abstandnahme. Beklemmung, eine ans Pathologische grenzende Angst vor dem Fremden im Eigenen — das ist das Gefühl, das Emigholz mit schlichter Comic-Ästhetik zu vermitteln versuchte.

Ein Gefühl, das Kreidler nun in Tracks übersetzen. Die eschatologischen Paradiese, vom jüngeren Verlauf der Geschichte ihres paradiesischen Gehalts beraubt, ähneln zunehmend trostlosen Endzeitszenarien. Kreidler arbeiten sich an dem Soundtrack für ein Europa ab, das allenthalben von wiedererstarkenden Rassismen und Nationalismen geplagt wird. Nichts daran ist schön, weil die Frage nach dem Schönen, dem Wohlgefälligen weil zwecklosen, wie es noch Kant verstand, bis auf Weiteres vertagt ist. Hier geht es auf klanglicher Ebene vielmehr um Ethik denn Ästhetik. Darum, dieser befremdlichen Kälte, die einen aus den medialen Bilderwelten heraus anspringt und bis in die eigenen vier Wände verfolgt, ein akustisches Pendant zu bauen, sie in verdichteter Form hörbar und derart zum Gegenstand der Reflexion werden zu lassen. Das Album wird so zum Versuch einer Gegenwartsbestimmung, die notgedrungen düster, starr und kalt ausfallen muss.

Ethik statt Ästhetik, das war zuletzt der Leitspruch der Brutalisten, die im England der 1950er Jahre damit begannen, Häuser aus nacktem Stahl und Beton zu fertigen. Die Referenz passt, nicht nur, weil einen Teil des Plattencovers eine Sichtbetonfassade ziert, sondern auch, weil dem Kreidler’schen Klangkosmos eine architektonische Qualität innewohnt, die seit dem 2009 erschienen Mosaik 2014 immer deutlicher zu Tage tritt. Der Architekturtheoretiker Reyner Banham bezog sich nicht auf die Musik, als er schrieb: »To construct moving relationships out of brute materials.« Aber eben darum geht es: Eine Klangarchitektur zu schaffen, die das Rohmaterial – allen voran Thomas Kleins unerbittlich maschinelles Schlagzeugspiel – mobilisiert und dabei den Zeitgeist aufnimmt. European Song ist akustischer Sichtbeton. Und dabei doch nicht ungelenk oder unmenschlich. Es steckt Bewegung in diesem störrisch hämmernden Ungetüm, das Verlangen nach Ausbruch: Dieses augenblickliche und unkontrollierte Aufflackern der Gitarre in Coulées oder der gedämpfte und nach Luft ringende Aufschrei des Stimmfragments in der Variation des ewigen Nietzsche-Themas No God. Und wo Bewegung ist, da ist immer auch Aufbruch. Ein Ausspruch, der während der Pariser Mairevolution 1968 zu einiger Berühmtheit gelangte, kommt bei Kreidlers Album unvermittelt in den Sinn: Unter dem Pflaster liegt der Strand.
 
 

Text

Robert Henschel

Fotografie

© Bureau B
 
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[/accordion][/accordiongroup]
[notification type=“success_alert“ title=““]European Song erscheint am 07. April auf Bureau B.[/notification]
 

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