Colo: »UR«

Der Geist erkennt dies alles und sich selbst, und die Körper erkennen nichts.
 
— Blaise Pascal

 
Noch bevor sich die Geschichte von Nick Smith und Ben Corr über das Intro – eine EP auf TAKE Records 2012 und eine 7 Inch auf Ki Records im vergangenen Jahr – hinaus entwickeln konnte, wäre ›UR‹ beinahe im Debakel geendet. Laptop im Pub gelassen. Backups? Eines dieser Phänomene, von denen man nur im Konjunktiv spricht: hätte man mal machen können. Fehlanzeige. Schweißausbruch. Dann englischer Altruismus: Sir, sie haben da ihre Rechenmaschine neben diesem Glas Ale vergessen. So – oder jedenfalls ähnlich – muss es abgelaufen sein. Irre Geschichte. Mit allzu frühem Klimax. Kann man irgendwann seinen Kindern erzählen und ihnen dann – nebst einem Schluck gehopften Sedativums – das eigene Debüt-Album präsentieren.

Ein denkbar glücklicher Umstand, denn an ›UR‹ wäre andernfalls ein penibel ausgefeiltes Stück Deep House verlustig gegangen, dem man kaum adäquat beikommen kann, ohne in einen bestimmten Gemütszustand zu verfallen. Es ist eine Art objektlose Melancholie, die sich in zehn Tracks mal vorder-, mal hintergründig artikuliert und doch nie gänzlich offenbart. Versteckt in der Spur einer Erinnerung, die – nicht restlos ausgelöscht – hinter einem milchglasartigen Schleier gefangen ist. ›UR‹ ist gewissermaßen der Proust’sche Versuch ihrer habhaft zu werden. Was sich ob des flüchtigen Charakters doch reichlich schwer gestaltet. Sie scheint sich einerseits in einem seltsamen Nach-sich-ziehen der Musik zu verbergen, einem Schlieren, das sich manchmal am Ende einer Synthesizer-Melodie verbirgt, um sie nachträglich mit dem schweißnassen Daumen zu verwischen. Ein anderes Mal steckt sie im nach unten gen Gehörlosigkeit fliehenden Basslauf — als würde sie sich der bohrenden Vernunft im Versteck des Körpers, zwischen Gedärm, Sehnen und Blutbahnen, entziehen wollen.

Noch viel mehr scheint sie sich allerdings an Orten zu befinden, die der Klang nicht auszufüllen vermag: im Hinterzimmer der Musik. Das ist in jedem der Tracks so prominent, dass ihm beinahe mehr Gewicht als dem Bühnenspiel beigemessen werden muss. Durch die Fugen zwischen den Tönen drängt sich diese aquatisch-schwere Fülle des Raums, ein Resonanzkörper, in den Myriaden von anonymisierten Gedanken eingeschrieben sind. Aus ihm scheint sich Smiths nachspürendes Erzählen zu speisen. Was – nicht nur dank Falsett – gelegentlich Parallelen zu James Blake beschwört. Hier wie da schwingt ein romantisch Unbewusstes mit. Bei Blake tritt es weniger deutlich zu Tage, weil die Musik spärlicher gesät ist, mehr Raum für den Raum lässt — gewissermaßen zur Stille tendiert. Bei Colo hingegen verdichtet sie sich, lässt wenig Freiräume, was die Wahrheit des Körpers dazu nötigt, als Destillat aus den Hohlräumen zu sickern — wie Harz aus der Baumrinde. Auf ›UR‹ ist der Einschluss der Erinnerung noch flüssig, bedarf einigen Suchens, bis sich eventuell irgendwann – ganz unvermittelt – ein Moment bernsteinartiger Klarheit einstellt.
 
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Text

Robert Henschel

Fotografie

© Ki Records; Tailored Communication
 
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[notification type=“success_alert“ title=““]›UR‹ erscheint auf Ki Records.[/notification]
 

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