Teebs: »Estara«

Das Offenkundigste, Unmittelbarste ist, daß eine solche […] nicht pulsierte Zeit eine Dauer ist, sie ist eine vom Takt befreite Zeit, sei der Takt nun regelmäßig oder unregelmäßig, einfach oder komplex.
 
— Gilles Deleuze

 
Man muss es ihm neidlos zugestehen. Flying Lotus – das Brain in Brainfeeder – hat einen untrüglichen Spürsinn für das Wesentliche. Oder vielmehr: Wesenhafte. Es durchzieht den Label-Katalog wie ein roter Faden. Wenngleich die Fadenmetapher zu stringent, zu materialistisch-greifbar gedacht ist. Denn das, was die Posse, angefangen bei seinen eigenen Produktionen, über Ras G und Thundercat bis hinein in die Untiefen von ›Estara‹, dem neuen Teebs-Album, zu verbinden scheint, ist viel flüchtiger, vielgestaltig, bewegt sich backstage hinter den Kulissen der Musik.

›Estara‹ vermag es nun auf reichlich paradoxe Weise dieses Wesen ganz unvermittelt ins Rampenlicht zu bugsieren. Ganz so wie in einem dieser unbequemen Träume, in denen man sich – Hamlet zitierend – in glorioser Nacktheit vor Klasse 8b wiederfindet. Und es ziert sich, versucht unentwegt der Gnadenlosigkeit des Scheinwerfers der Scham zu entrinnen, schlägt Finten, hält in der Bewegung inne. Was es ist? Nun ja: die Zeit. Nackte Zeit. Im Rohzustand. Unraffiniert. Kein schöner Anblick für unsere linearitätsverwöhnten Augen. Wie sie da so schizophren vor sich hin stolpert. Paradox ist die Entdeckung deshalb, weil man sie, so denn alles glatt läuft, eigentlich gar nicht sehen – hier: durch das Ohr sehen – sollte. Und umso verwirrender, da dieses Vergehen der Zeit gleichsam auf Knopfdruck wiederholbar wird, ohne aber – und da liegt die Besonderheit – die Prozesshaftigkeit zu verlieren, also zu einer Art Momentaufnahme zu gerinnen. Vielmehr scheint es so, als wäre die Zeit mit sich selbst kurzgeschlossen. Hit repeat. Teebs ist gewissermaßen die Momo der Beats, wenn man so will. Er sieht die grauen Herren, wie sie in einem unablässigen Mahlstrom der Noten herumwuseln, hier und dort kleine Fragmente herausbrechen. Das ist es, was man hört, wenn auf Ebene dieser sich kontinuierlich durch 12 Tracks ziehenden Klangkaskade plötzlich kurze kristallklare Brüche zu hören sind. Wie ein Schillern stechen sie heraus — in ›Holiday‹ ist es Jontis sinnentleerter Stimmkörper, der immer wieder kurz an die Oberfläche taucht. Von Bruch zu Bruch entstehen Zeitfenster — vereinzelte Dauern. Auf einer anderen Ebene, scheinbar völlig entkoppelt vom restlichen Geschehen, bewegen sich träge die wuchtigen Hip Hop-Beats, versuchen unablässig ins Geschehen zu grätschen, verfehlen immer ihr Ziel, bewegen sich aber nichtsdestotrotz — erzeugen parallele Dauern. Jede von ihnen flieht in eine andere Richtung, aber doch nicht so weit – die Begrenzung bildet der Körper der Musik –, um den jeweils anderen gänzlich aus dem Blickfeld zu verlieren.

Dieses Neben- und nicht Miteinander lässt die Fragilität des Brainfeeder-Sounds entstehen: in der geschichteten Beat-Hektitk eines Flying Lotus sowie in der stimmlichen Verschlepptheit eines Ras G. Das, oder eben die Pot-potenzierte Klarsicht.
 
 

Text

Robert Henschel

Fotografie

© Theo Jemison
 
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[notification type=“success_alert“ title=““]›Estara‹ erscheint auf Brainfeeder / Ninja Tune.[/notification]
 

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