Actress: »Ghettoville«

The scripts now carry tears, the world has returned to a flattened state, and out through that window, the birds look back into the cage they once inhabited.
 
— Darren Cunningham

 

Eines muss man Darren Cunningham und seiner Charaktermaske Actress lassen, mit ›Ghettoville‹ hat er einen Nerv getroffen — oder besser: eine Vene. Hat einen dichotomen Schuss gesetzt, der gleichermaßen dystopischen Trip und an dessen ausgefransten Rändern ästhetischer Wahrnehmung einen fragilen Halo der Schönheit verspricht.

Doch zunächst heißt es hinabsteigen in etwas, was das sonische Pendant zu Jim Jarmuschs Darstellung des nächtlichen Detroit in ›Only Lovers Left Alive‹ sein könnte. Ein Tableau vivant der Unwirtlichkeit postindustrieller Gesellschaften, übersät von Ruinen, deren ehemaliger Glanz der Moderne mit dem Putz von der Fassade bröckelt. Was bleibt ist das skelettierte Gerüst eines geschundenen Gesellschaftskörpers, dessen Herzschlag die Signatur des Schrittmachers trägt, der ihn am Leben hält: Techno. Im Halbdunkel verwaister Fabrikhallen wildern Melodiefragmente, brüchige Kickdrums umzirkeln den Raum; mitunter tauchen – wie aus dem Nichts – spukhafte Wortfetzen an der Oberfläche der Wahrnehmung auf — Simulacra: sie sind der Fingerzeig auf eine Identität, die sich bei genauerem Hinsehen als bloßes Trugbild entpuppt. Sie verlangen nichts; slacken in zerschlissenen Jeans durch die Räume und suchen im Widerhall ihrer Schritte nach Sinn. Einige der vereinzelt herumstehenden Maschinen funktionieren noch. Nicht mehr einwandfrei allerdings, sie zerbrechen die Samples. Fehlerbehaftet rattern sie vor sich hin, stellen die Groteske der Bewegungen aus, die sie vollführen — wie gealterte Models. Hier und da entfährt ihnen einen Quietschen: dumpfes Nachhallen der Erbarmungslosigkeit industrieller Produktion. »Don’t stop the music« säuseln sie in ›Don’t‹, bevor die Platte springt und das Sloganhafte in ein gedankenversunken repetiertes Lamento umschlägt.

Wie Flickwerk wirkt die Szenerie, die ›Ghettoville‹ entwirft. Als hätte man nach einem Theaterstück die Requisiten auf der Bühne belassen und das Licht ausgeschalten. Nach und nach entweicht der Geist der Geschichte, dem sie ihre Verbundenheit entliehen haben und der sie nun zur vergangenheitsentzogenen Hingeworfenheit ächtet. Doch genau dort, zwischen Dreck, Staubschichten und der Patina nostalgischer Verklärung, nur aus der Vogelperspektive der oberen Ränge sichtbar, funkelt das kritische Potential der Platte — das Moment, was ihr entgegen aller propagierter Tristesse einen – zugegeben: recht verschrobenen – Glamour verleiht. Es wartet geduldig auf das Klicken des Lichtschalters und die Federn des Staubwedels, um dann – ganz verhalten – eine Frage zu suggerieren: Wie lässt sich dieser Szenerie das richtige Leben injizieren, nun, da das falsche entwichen ist?
 
 

Text

Robert Henschel

Fotografie

© Piotr Niepsuj, Verstärker
 
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[notification type=“success_alert“ title=““]›Ghettoville‹ erscheint auf Werkdiscs / Ninja Tune.[/notification]
 

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