Expect the unexpected, so könnte die Labelphilosphie von Hubro lauten. Diesem verschrobenen norwegischen Kleinod, das im Schlagschatten einer – bekanntermaßen – äußerst vitalen Musikszene eine Wahnsinnsplatte nach der anderen veröffentlicht. Eine grundsätzliche Unvoreingenommenheit und der Hang zum Experiment gehören im kühlen Norden von Hause aus zum guten Ton. Wie fruchtbar dieses Bewahren einer Art kindlichen Neugier im Umgang mit Musik ist, zeigt sich allenthalben — von Erlend Øyes The Whitest Boy Alive über Jaga Jazzist bishin zu Motorpsycho. Was ihnen gemein ist, ist ein – mehr oder minder – subtiles Kokettieren mit Jazz, der – siehe Jaga Jazzist – mal im Epizentrum stehend in Richtung elektronischer Musik schielt, oder wie bei Motorpsycho immer im Orbit des eigenen Rock-Verständnisses kreist. Dabei scheint es fast weniger um das Material an sich zu gehen, als eher um eine bestimmte Denkauffassung, die den Umgang mit Musik – oder treffender: Klang – bestimmt. Man könnte es Lust am Unerwartbaren nennen. Eine Lust, die den Klangmolekülen ein bestimmtes Maß an Eigenleben zugesteht — was Roland Barthes einst als jouissance, ein fleischliches Genießen, beschrieb. Wie ein erleichtertes Aufatmen, wenn Strukturen – das mögen Genrekonventionen oder auch Limitierungen des Intstruments sein – überdehnen und bersten — wie die erlösende Explosion am Ende von Michelangelo Antonionis ›Zabriskie Point‹.
Die Spannung dieses Kippmoments ist es, die Hubro-Platten jeglicher Provenienz genüsslich und, man muss es erwähnen, mit ziemlicher Raffinesse auskosten. Sei es die groteske und gleichermaßen fragil-schöne Verquickung von Schlagzeug und Säge auf Erland Dahlens ›Rolling Bomber‹, das unvermittelte Hin und Her von leger aus dem Ärmel geschütteltem Post-Rock und aberwitzigen Free Jazz/Noise-Kaskaden bei Cakewalk oder das Doppelleben der Klanggemälde eines Håkon Stene. Auf ›Lush Laments for Lazy Mammal‹ sind es – mit einigen Ausnahmen – vor allem Stücke des britischen Gegenwartskomponisten Laurence Crane, die Stene vertont. »As minimal as you can get« nannte die mal eine Ausgabe der Grammophone. Tatsächlich halten sich filigrane Melodieläufe und derlei Ornamentik auf ›Lush Laments‹ eher in Grenzen — und genau darin liegt die Faszinaton. Wie mit Pinselstrichen gemalt, stehen vereinzelt Akkorde im Raum. Losgelöst von jeglicher Narration wirken sie zunächst verloren, starrgestellt, entrissen. Bis sich – nach einigem konsternierten Hin- und Hersehen – Blicke treffen. Manche verweilen nur für den Bruchteil einer Sekunde beieinander, manche verharren. Erstere übersetzen sich in ein kurzes Flirren, in mikrotonale Verschiebungen, während sich letztere zusehends aufschaukeln, hin zu langsam wogenden Feedbackschleifen. Und doch bleibt diese ursprüngliche Unverbundenheit gleichermaßen bestehen, allerorts sichtbar, aber doch wie hinter einem Schleier, widersetzt sie sich dem Sog weg vom Ton, hin zur Fläche. Eine paradoxe Gleichzeitigkeit von Ursache und Wirkung, als wäre deren Kausalitätsverhältnis aufgehoben und all das geschähe an einem Ort, an dem sich verschiedene Zeitebenen miteinander kurzschließen würden. Was im Pop wohl am ehesten als Drone durchginge. Und tatsächlich haftet den Kompositionen kaum artifizielle Schwere, das Gewicht der Notation an (wie bei Stockhausen oder auch Cage), sondern eher das, was Richard Hamilton seinerzeit als ein Merkmal der Popart bezeichnete: Flüchtigkeit. Wie gesagt: expect the unexpected.
Text
Robert Henschel
Fotografie
© Nicki Twang
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[notification type=“success_alert“ title=““]›Lush Laments for Lazy Mammal‹ erscheint auf Hubro Music.[/notification]