Kein Gott, nur Zigaretten — Tom Perrotta’s »The Leftovers«

You’re on your own, in a world you’ve grown.
 
~ James Blake

Es ist die Krux der Unterhaltungsbranche: Wie dreht man das Rad weiter, nachdem eine Serie wie Game of Thrones sogar schon Machiavelli in den Mainstream gehoben hat? Was soll noch kommen, nachdem Horror und Apokalypse sich in seit Jahren überbietenden Schauwerten um die Vorherrschaft an den letzten Wasserlöchern des Schockierenden streiten? Tom Perrotta’s Erzählung The Leftovers bietet da einen feinen Twist, dem sich nun auch die Qualitätsplattform HBO in der gleichnamigen Serie widmet. Schock? Gleich null. The Leftovers ist der quälend langsame und zermürbende Aftershock.

Worum es geht ist schnell erklärt, wenngleich schwer verständlich: An einem 14. Oktober verschwinden wahllos Menschen auf der ganzen Welt; um genau zu sein etwa 2% der globalen Bevölkerung. Quer durch alle Schichten, Milieus, Nationen, Ethnien – gleich welchen Alters oder Geschlechts. The Leftovers widmet diesem grundlegenden aber genau genommen nicht darzustellenden Event eine simple aber effektive Eingangssequenz. Das schreiende Baby einer alltagsgestressten Mittelschichtsmutter sitzt von einem Moment auf den anderen nicht mehr dort, wo es eben noch saß, während ringsherum Autos ineinander fahren und Menschen nach ihren Angehörigen rufen. Was eigentlich genau passiert ist, wird nicht gezeigt. Menschen verschwinden ohne Grund und ohne Spuren zu hinterlassen. Was hingegen gezeigt wird, ist die Herausforderung, der sich Perrotta und Co-Autor/Showrunner Damon Lindelof (Lost) auf ihre Art widmen. Im Fokus stehen die Konsequenzen dieser metaphysischen Katastrophe, weshalb The Leftovers auch erst drei Jahre nach diesem als ‚Sudden Departure‘ betitelten Nullpunkt ansetzt.

Unser Blick wird dabei auf einen exemplarischen – aber natürlich zutiefst amerikanischen – Mikrokosmos geführt: Mapleton, New York. Hier gibt es sowohl die, die unmittelbar Mann und Kinder verloren haben, als auch die, deren Schmerz sich erst in mittelbaren Konsequenzen ausdrückt. Es gibt den Priester, dessen Kirche leer und Taschen noch leerer sind, der dem Glücksspiel verfällt und dessen lautstarke, öffentliche Erinnerung an die Sünden derer, die am 14. Oktober verschwanden, nicht gut ankommt. Da gibt es den Polizeichef Garvey (Justin Theroux), der, versteckt hinter Autorität, Sonnenbrille und Alkohol, Mühe hat, seine Familie zusammen und die öffentliche Ordnung unter Kontrolle zu halten. Seine Tochter und ihre Clique sind so leer wie lebendig; Party, Highschool, Sex – alles ist aufgeladen mit einer Aura der Sinnlosigkeit, Verzweiflung und Gewalt. Garveys Frau flüchtet sich derweil in eine obskure, nicht-religiöse Sekte (The Guilty Remnants), deren Mitglieder ein Schweigegelübde ab- und weiße Kleidung angelegt haben, während sie ketterauchend und in einer Art ständiger Mahnwache dem Rest der Gesellschaft das Recht auf Alltag, Weitermachen und Erinnerung verwehren. Ebenfalls im Netz neospiritueller Abgründe gefangen: Garveys Sohn Tom. Er ist Teil eines Kults um den charismatischen Führer Holy Wayne, der, eingebettet in ein paramilitärisches Netzwerk und umgeben von jungen Asiatinnen, die Verzweifelten durch die Kraft seiner Umarmung von ihrem Schmerz befreit. Jim Jones lässt grüßen.

Die Stoßrichtung von The Leftovers ist schnell klar: Perrotta bespielt die Leerstelle, die nach einem sowohl gesellschaftlichen als auch spirituellen Totalschaden den common sense ersetzt und in einer Art unvollendeter Dystopie mündet. Unvollendet, denn genau genommen sind 98% der Weltbevölkerung geblieben – sie könnten weiter machen wie bisher. Dass sie es nicht tun, dass alles langsam aber unaufhaltsam entlang vorhandener sozialer Sollbruchstellen zerbröselt, dass Gesellschaft plötzlich zu einer Fingerübung in quälender Selbstzerfleischung wird, all das macht die umfassende und im Fernsehen bisher kaum dagewesene Deprivation von The Leftovers klar. Es ist schon bitter: Im Sudden Death Modus sind wir nicht einmal mehr zu ordentlicher Religion fähig, nur zu spirituellem Chaos. Eine hervorragende dramatische Grundlage. Keine Monster, keine Naturkatastrophen, auch keine comichaft überzeichneten menschliche Abgründe. Nur Menschliches, Allzumenschliches. Viel Verzweiflung. Kein Lachen wirkt unbelastet, keine Konversation unbeschwert – die Welt von Perrotta und Lindelof ist eine des demokratisierten Verlusts und des globalisierten Elends.

Wenn es eine Szene braucht, um diese Serie als wirklich gut verständlich zu machen, dann ist es die des „Heroes Day“: Eine Parade zu Ehren jener die verschwunden sind. Dass es Helden gewesen sind, glaubt keiner so richtig, aber – und hier wirft The Leftovers die tiefe Drift der amerikanischen Gesellschaft auf sich selbst zurück: Es muss geglaubt werden, no matter what! (Oder in den Worten der Bürgermeisterin: „No one’s going to come to a parade on ‚We Don’t Know What the Fuck Happened Day'“.) Der Soundtrack zu diesem Get-together der Desorientierung und der falschen Rituale vereint übrigens unter anderem James Blake und Fuck Buttons. Auf der einen Seite: Der Heiland der popmusikalischen Ellipse, Fürsprecher des Nichtsagbaren und des schwer zu ortenden Dazwischen. Und auf der anderen: das diodische Flirren, ein sich bedrohlich aufbäumendes Amalgam aus Wut, Gewalt und Angst. Das hinterlässt eine beeindruckende Spur der emotionalen Verwüstung und allein hinter diesem Score kann man fast nur noch feucht durchwischen. Überhaupt gibt es wenig, was The Leftovers falsch macht und viel, worüber sich reden ließe. Doch im Moment machen wir es wie die Guilty Remnants. Schweigen und rauchen. Kein Gott, nur Zigaretten.
 
 

Text

Henning Grabow

Fotografie

© HBO; Screenshot: Youtube
 
[tabgroup][tab title=“Schau|Spiel“][/tab][/tabgroup]
 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert