Koen Holtkamp: »Motion«

Die selbstständige Naturschönheit entdeckt uns eine Technik der Natur, welche sie als ein System nach Gesetzen, deren Prinzip wir in unserm ganzen Verstandesvermögen nicht antreffen, vorstellig macht.
 
— Immanuel Kant

 
Es gibt da diese kurze Szene in Darren Aronofsky’s ›Pi‹, etwa zur Mitte des Films, in der Max – gedankenversunken am Strand sitzend – einen Mann mit Metalldektor beobachtet, der in seinem Suchen für einen kurzen Augenblick innehält, um ein Schneckenhaus zu betrachten. Er hebt es auf. Aus der Ferne sieht man ihn, fast unmerklich mit dem Kopf nickend, verstohlen lächeln. Dann legt er es behutsam zurück in den Sand und widmet seine Aufmerksamkeit wieder dem unablässig fiependen Detektor. Max, von der Groteske der Szenerie neugierig gemacht, steht auf, um die Muschel in Augenschein zu nehmen: ihre Drehung gleicht einer nahezu perfekten Fibonacci-Spirale. Cut.

Worum sich diese Szene dreht, scheint weniger in der Formschönheit der Muschel begründet zu liegen, als eher im – sich in ihr manifestierenden – System der Berechenbarkeit, das sich hinter der Fassade verbirgt. Ein kurzes Erhabenheitsmoment in der Betrachtung, das den Blick auf das Uhrwerk der Weltmaschine freigibt — unbegreiflich, übermächtig, einschüchternd. Die Art Unfassbarkeit, die Max auf seiner Suche nach der allumfassenden Formel schließlich in den paranoiden Wahnsinn treibt — kondensiert im Anblick des Schneckenhauses.

Koen Holtkamps ›Motion‹ macht nicht wahnsinnig. Dennoch scheint es der gleichen Funktionslogik zu folgen — wie vielleicht alle seiner Kosmischen Wegbereiter (u.A. Klaus Schulze, Manuel Göttsching). Da liegt ein latentes Allwissenheitsgefühl in der Musik, dem man sich weder erwehren noch es verorten kann. Irgendwo dort, im Verhältnis dieser langsam vor sich hin-dronenden Geräuschkulisse im Hintergrund zu den flirrenden Sequencer-Melodien, die auf ihr tanzen, liegt es versteckt. Gleichsam unerreichbar, weil sich seine Form organisch mit der Musik wandelt und – man kann sich dem Eindruck nicht entziehen – dieser Wandel so etwas universell-harmonisches verkörpert. Vielleicht wohnt ihm doch eine Unze Wahnsinn inne. Eine Nasenlänge, in etwa so viel wie der Abstand zwischen Windhund und Hase. Im gleichen Atemzug provoziert ›Motion‹ den Affekt, die Körperreaktion; eine Faultier-mäßige Gelassenheit im Augenblick des Unter-die-Räder-der-Musik-geratens. Mit dem Perspektivenwechsel wächst sie für eine Minute ins Riesenhaft-bedrohliche, aber: ohne Drohgebärde lässt sie uns in sicherer Distanz dem morphologischen Schauspiel beiwohnen und, fast unmerklich mit dem Kopf nickend, verstohlen lächeln.
 
 

Text

Robert Henschel

Fotografie

© Bradford Bailey
 
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[notification type=“success_alert“ title=““]›Motion‹ erscheint auf Thrill Jockey Records.[/notification]
 

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