Rumpistol: »Away«

Seid nicht eins oder viele, seid Vielheiten!
Macht nie Punkte, sondern Linien!
Geschwindigkeit verwandelt den Punkt in eine Linie!

Seid schnell, auch im Stillstand!
 
— Gilles Deleuze, Felix Guattari

 

Anlauf.

Ein Käfig voller Geschwindigkeiten: rasende, flanierende, flottierende, lahmende — entfesselt rempeln sie im großstädtischen Gedränge aneinander. Manche verkanten für den Bruchteil von Sekunden, andere verschütten in einem enervierten Moment des Kontrollverlusts ihren Kaffee über das schneeweiße Hemd eines in der Elektronenwolke mobiler Kommunikation schwebenden Gegenübers, reißen es für einen gewaltvollen Augenblick hinunter in die betonierte Realität — Entschuldigung, Entschuldigung, Lassen sie mich kurz…, Ja, ja, schon gut!… Was sagtest du? Irgendein nostalgisch blinder Vektor hat mir gerade Kaffee über das Hemd geschüttet.
 

Mal hier, mal da.

Eine sündhaft schön schizophrene Platte ist Rumpistols ›Away‹ geworden. Sehr flatterhaft. Mal verweilt sie für einige Sekunden in kühler Quantisiertheit technoider Kickdrums, dann, sobald ihr die ersten Härchen im Nacken zu Berge stehen, springt sie auf, macht einen hastigen Ausfallschritt hinein in die moderne Wärme analogen Vinylknackens. Im titelgebenden Track erfreut sie sich als heimlicher Teilhaber einer nicht ihr angedachten, sie aber dank ihrer bloßen Anwesenheit involvierenden Intimität romantischer Dialoge — bis ihr deren kitschige Legierung, die aufdringliche Unzeitgenössigkeit der ganzen Szenerie, die Lust raubt. Dann macht sie Kehrt, stampft auf den Boden, klatscht sich mit beiden Händen auf den Hintern und wendet ihren Blick wieder den just im rechten Moment herannahenden Binärcode-Nomaden zu. Dort, im Augenblick des Umschwingens geschieht ein gleichermaßen verwirrendes wie faszinierendes Schauspiel: die Stimmen rutschen – wie unerwartet auf Glatteis geraten – vom Vordergrund in den Hintergrund und verlieren plötzlich und rapide an Substanz, weil ihnen die Situiertheit entgleitet, die ihren Worten Sinn inhaliert hatte. Es ist eine Art Ghostbusters-Sekunde, als bekäme man mit, wie Geister entstehen. Diese kurzen Zeitspannen des Entgleitens, sie sind es, die ›Away‹ so spannend machen, weil sie kleine Unzen an Verwirrung und temporärer Unsicherheit in die Wahrnehmung injizieren, um sie wie eine störrische Ziege ins Chaotische zu zerren.
 

Mal nirgendwo.

Um Eskapismus sollte sich das Album drehen, um einen Zustand, ähnlich dem des Tagträumens — körperliche Anwesenheit bei gleichzeitiger geistiger Abwesenheit; eben Away-Sein. Es ist dann doch um eine Nuance anders gekommen. Denn viel mehr erscheint es so, als wäre das Fixe, der Zu-stand, selbst unversehens ins Away-Sein hineingeraten. Als wäre man noch nicht im Tagtraum angekommen, sondern säße in einem transitären Raum zwischen Hier-Sein und Away-Sein fest — gewissermaßen zur Dauerhaftigkeit geronnenes on the way-Sein. Wie Zugfahren: vor dem Fenster verschmieren die Umrisse der Objekte, sie beginnen Schlieren zu tragen, aber behalten dennoch einen eigenartig erodierten Rest an Form, der sie erkennbar macht. Was diesen schizophrenen Zustand – den die Platte auf wundersame Weise in einen Soundtrack des Verschmierens zu schreiben vermag – so bemerkenswert macht: sie steigert die Sensibilität unserer Wahrnehmung für ihr eigenes Funktionieren — eine Art metaneurologische Feedbackschleife, die einen doch reichlich schlau erscheinen lässt. Rumpistol ist es gelungen, sie festzuhalten.
 
 

Text

Robert Henschel

Fotografie

© Tobias Wilner
 
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[notification type=“success_alert“ title=““]›Away‹ erscheint auf Rump Recordings.[/notification]
 

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