The Notwist: »Close To The Glass«

Es gibt viele Dinge, anhand derer wir unseren Alltag strukturieren. Die allabendliche Tagesschau portioniert die Zeitspanne von Tatort zu Tatort in sieben leicht verdauliche Häppchen. Den neuen Monat markiert die kreischend bunte Ausgabe der Intro auf dem flyerübersäten Wühltisch vor dem Damenklo im hippen Biocafé-Workingspace-Plattenladen. Diverse Sportevents lassen uns wissen, dass schon wieder vier Jahre seit dem letzten vermeintlichen Sommermärchen vergangen sind. Und alle sechs Jahre darf die anspruchsvolle Musikwelt vor Freude jubilieren, denn: in gewohnt deutscher Pünktlichkeit bringen The Notwist ein neues Album heraus.

Wie eine langsam hochfahrende Maschine startet ›Close to the Glass‹. Mit einem sich verdichtenden, stets unberechenbaren Geräuschwirrwarr aus den Untiefen analoger Schaltkreise, die Martin Gretschmann aka Console wie ein Symphonieorchester zu dirigieren vermag. The Notwist haben den – in der gemeinen Elektronika-Rezeption so unabdingbar gewordenen – Ausdruck des Pluckerns zu ihrem Markenzeichen gemacht; Soundfetischismus par excellence, bei der die so liebgewonnene Nerdigkeit nie fehlt. Bevor man sich jedoch in produktionstechnischem Schwandronieren, Analysieren und kritischem Nachverfolgen der Knöpfchen und Wellenformen verliert, bricht die glassklare Stimme Markus Achers wie ein Sonnenstrahl durch die staubgetränkte Studioluft. Stimmt, das ist ja jetzt gar nicht Kater Holzig und Acid Pauli, man bewegt sich wieder einmal vorsichtig schlitternd entlang der Planken der MS Notwist.
 

Don’t even think you’ll ever know, if you’re swimming in or outside the boat.

 
Man muss gewarnt sein, denn ›Close to the Glass‹ verwischt die Grenze zwischen Sein und Schein. Auf eine fast kindliche Art werden hier Realität und Fiktion ineinander verwoben, so, dass man sich am Ende nicht einmal mehr sicher sein kann, ob es vielleicht tatsächlich King Kong war, der die Dorfbewohner vor der schrecklichen Sintflut gerettet hat.
In dieser absolut ironiefreien Art, mit der Acher in seinem so markant melancholischen Falsett das Leben im Casino und die damit einhergehende Pleite besingt, könnte man fast ein komisches Moment entdecken. Ein verschmitztes Lächeln auf den Lippen, aber eben nur versteckt — irgendwie kauft man The Notwist in ihrer Souveränität einfach alles ab. Meinen die das Ernst? Ist das jetzt Kunst oder Kitsch? Wer die Band so hinterfragt, der kann sich gern die Nase am dunklen Studiofenster in der bayrischen Provinz plattdrücken. Außer beschlagenem Atem und dem wirren Muster der fettigen Schlieren aus Talg und Schweiß auf dem kühlen Glas wird sich nichts zu erkennen geben.

Am Ende sitzen da vier Freunde, die sich ohne Ablieferungsdruck einfach Zeit lassen können, bis plötzlich wieder so ein geniales Album aus den Frickeleien geboren ist. Auf manche Dinge kann man sich eben verlassen wie auf das Amen in der Kirche. Und täglich grüßt das Murmeltier, nur eben ohne die Murray’sche Tristesse im Mienenspiel.
 
 

Text

Laura Johanna Aha

Fotografie

© Joerg Koopmann
 
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[notification type=“success_alert“ title=““]›Close To The Glass‹ erscheint auf City Slang.[/notification]
 

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